Samstag, 29. November 2014

Zum Russlandbild in den deutschen Medien

Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien."[1] Der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann wies mit dieser These auf die zentrale Funktion hin, die den Medien in unserer Gesellschaft zukommt. Je nachdem, wie Medien durch eine bestimmte Themenstrukturierung die Blickrichtung des Informationsprozesses vorgeben und regeln, bestimmen sie mit, welche Teile einer dargebotenen Realität wir mit hoher Wahrscheinlichkeit bemerken und in welchen Bedeutungsrahmen wir ein Thema einordnen (framing).[2] Dass die Medien ihrer daraus erwachsenden Verantwortung gerecht werden, ist nicht selbstverständlich: Ein Mangel an Korrespondenten und echten Experten, wirtschaftlicher Druck sowie die gängigen Nachrichtenwerte – aber auch Stereotype und Vorurteile – können dazu führen, dass die Medienrealität mitunter eine ganz eigene ist. So bemerkte die ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz einmal: "Das Image eines Landes stimmt in den seltensten Fällen mit den tatsächlichen Gegebenheiten überein. Manchmal handelt es sich nur um Nuancen, die zwar ärgerlich sind, aber nicht schwer wiegen. Mit Blick auf Russland zeigt sich jedoch eine gewaltige Diskrepanz zwischen der Realität im Land und den Stereotypen, die sich nach wie vor in den westlichen Köpfen halten."[3]

In diesem Artikel gehe ich der Frage nach, inwiefern dieser Befund in Bezug auf die deutsche Berichterstattung über Russland (noch) zutrifft. Bei aller Kritik, die dabei zum Ausdruck kommt, soll es jedoch keineswegs darum gehen, die Probleme Russlands zu beschönigen oder sein politisches Handeln zu beurteilen, sondern schlicht darum, die Art und Weise der journalistischen Berichterstattung in Deutschland zu analysieren. Denn die meisten der medial verbreiteten Nachrichten aus Russland sind in ihrem Kern real und keine Erfindungen.

mehr:
- Zum Russlandbild in den deutschen Medien (Verena Bläser, Bundeszentrale für politische Bildung, 11.11.2014, Hervorhebungen von mir)
Zitat:
Es gibt auch Beispiele für Falschmeldungen, die medial verbreitet wurden: etwa die behauptete "Vernichtung" eines russischen Militärkonvois[30] oder die Meldung, es habe sich bei von prorussischen Separatisten gefangen gehaltenen Militärs ausschließlich um OSZE-Beobachter gehandelt.[31] Diese Beispiele können natürlich nicht die gesamte Bandbreite darstellen, und Vorsatz sollte nicht unterstellt werden. Doch auch die Entstehung von Falschmeldungen wird durch Klischees begünstigt: führen sie doch dazu, dass bestimmte Meldungen in ein Bild passen, die daraufhin möglicherweise weniger gründlich geprüft werden als Meldungen, die das Klischee nicht bedienen. Letztlich führen jedoch auch unbeabsichtigte Falschmeldungen dazu, dass sich das Russlandbild in deutschen Medien weiter negativiert und vereinheitlicht. Gleichzeitig wächst auch Kritik an dieser Art der Berichterstattung.
Der Aufsatz zitiert den ARD-Programmbeirat:
»In der Berichterstattung über die Krise in der Ukraine überwog anfangs eine Schwarz-Weiß-Zeichnung zugunsten der Maidan-Bewegung, obwohl hier auch das rechte, extrem nationalistische Lager beteiligt war, und zulasten der russischen und der abgesetzten ukrainischen Regierung, denen nahezu die gesamte Verantwortung zugeschoben wurde.«
siehe dazu auch 
Ukraine 20 – ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik (18.09.2014, zuletzt aktualisiert am 04.10.2014)

mein Kommentar:
Alle Achtung, beachtet man den Kontext dieses Aufsatzes (Bundeszentrale für politische Bildung)! Daß sich die Verfasserin zum letzten oben zitierten Satz (die meisten der medial verbreiteten Nachrichten aus Russland sind in ihrem Kern real und keine Erfindungen) genötigt sieht, spricht für sich.
Natürlich hätte ich mir gern mehr gewünscht. Wenn immer und immer wieder Darstellungen dieser Art unisono in den Qualitätsmedien erscheinen, muß man sich zwangsläufig Fragen stellen. Dazu den folgenden Kommentar zu
- Immer auf Putin? - Breite Kritik an Medien (NDR, 16.04.2014, Hervorhebung von mir)
Die Kluft existiert weniger zwischen dem was Journalisten schreiben und was Leser denken, sondern zwischen dem was Journalisten schreiben und der Wahrheit. Das reicht von Weglassen von Informationen über leichte Verdrehungen bis zu krassen Lügen. Kleines Beispiel, gerade aus einem Kommentar im Deutschlandfunk: " ... der Gipfel in Brisbaine, den Putin frühzeitig und sichtlich verärgert verließ ...". Zwei kleine Lügen in diesem kurzen Satz. Merkel verließ den Gipfel wenige Minuten nach Putin und dass Putin "sichtlich verärgert" war, ist eine Unterstellung. Aus seinem Verhalten (Interviews, Fotos) kann man das nicht schließen. (Peter, 19.11.2014)

Folgender Satz gehört zu den vielen (entweder ungenügend reflektierten oder böswillig beigemischten) kleinen Sägespänen im Brot, die anscheinend weder die Leitmedien noch der große Teil der Bevölkerung wahrnehmen und die unsere Nachrichten vergiften:
»Russland verlegt angeblich Soldaten und Waffen in die von Separatisten besetzten Gebiete in der Ukraine, in denen heute gewählt wird. Laut Beobachtern transportieren Dutzende Lastwagen unter anderem Raketenwerfer.« [Ostukraine – Kiew meldet „intensive“ Truppenbewegung, FAZ, 02.11.2014, Quelle: nto./AFP/dpa]
dazu kurz:
1. Die wievielte »angebliche« Lieferung ist das? Die wievielte »befürchtete« Militäraktion Russlands ist das? Wieviele bewiesene Militäraktion Russlands hat es bisher gegeben?
2. Was sind Separatisten? Sind die Leute da Separatisten? Wollen die wirklich zu Russland?
3. Was ist eine Besetzung? Haben die Hannoveraner Hannover besetzt? Die Leute leben da!

siehe dazu auch:

Ukraine 9 – Wider die veröffentlichte Meinung (11.05.2014, zuletzt aktualisiert am 31.07.2014)
Ukraine 8 – Mariopol und die Berichterstattung  (10.05.2014, zuletzt aktualisiert am 26.07.2014)
Ukraine 7 – Der Sprachen- bzw. ethnische Konflikt als Teil des Ukraine-Konfliktes (03.05.2014, zuletzt aktualisiert am 27.09.2014)
Tagesschau sachlich und objektiv: »Putin, einsam und verlassen« (Post, 19.11.2014)
Wo sind Peter Scholl-Latour und Ulrich Wickert, verdammt nochmal? (Post, 25.11.2014)
Unsere Bundesmama und zwei ungehorsame Kinder (Post, 26.11.2014)
- Ukraine und USA: Interessen, Nebelkerzen und Deutungshoheit (Post, 27.11.2014)

Zur bewußteren Wahrnehmung der Berichterstattungempfehle ich, sich folgende Fragen zu stellen:

- worüber wird berichtet, worüber nicht? (z.B. Odessa-Massaker)
- welche Begriffe werden verwendet (»prorussische Separatisten«, »Maidan-Bewegung«)
- gibt es wiederholt auftretende Mechanismen 
       - z. B. eine »angebliche« Aktion Russlands nach der anderen, 
       - eine »Beschuldigung« oder »Verdächtigung« Russlands (vorzugsweise durch NATO-Generalsekretäre) nach der anderen, 
       - MH-17-Katastrophe – SPIEGEL: »Stoppt Putin jetzt«, 
       - das plötzliche Verschwinden des – inzwischen teilweise zerstörten – russischen Konvois mit 23 gepanzerten Fahrzeugen aus den Medien

Weiß zum Beispiel jemand, wieviele Soldaten der regulären ukrainischen Armee im Osten des Landes kämpfen? Weiß jemand, wieviele Kämpfer irgendwelcher ukrainischer para-militärischer Truppen dort kämpfen und wem sie gehorchen?


aktualisiert am 06.07.2016

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