Dienstag, 1. Mai 2012

»Zeichen der Unfreiheit in unserer freien Welt«


Warum die Krankheit Antisemitismus bis heute weiterlebt.
Anmerkungen eines Freundes Israels zur Grass-Debatte

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Von Paul Oestreicher

Nur mit Gewalt, nur mit Terror war es möglich, einen jüdischen Staat auf dem Boden Palästinas zu gründen. David Ben Gurion, der Vater des modernen Israels, hat es selber so dargestellt: »Wäre ich ein Palästinenser, hätte auch ich um meinen Heimathoden gekämpft.« Die neuen Ankömmlinge siegten. Sie waren unerbittlich. Sie waren zum großen Teil die Überlebenden des Massenmordes am jüdischen Volk. So wie die Deutschen in Schlesien und Ostpreußen wurde eine gute Hälfte der Palästinenser in die Flucht getrieben. Unzählige ihrer Dörfer wurden vernichtet. Der Gründungstag Israels war der »Tag der Tragödie« für die Palästinenser. So begann der tragische Konflikt, der heute noch andauert.

Die Welt hat ein hartes Urteil getroffen, und es musste so kommen. Eine Heimat für das geschundene jüdische Volk war ihnen nicht mehr zu verwehren. Ihnen wurde etwas mehr als die Hälfte des kleinen Landes zugesprochen, den Palästinensern das, was übrig blieb. Ohne Auschwitz gäbe es den Staat Israel nicht. So wurden auch indirekt die arabischen Bewohner des Landes zu Opfern des Nazi-Terrors. Sie bekamen aber keine Wiedergutmachung vom reichen Deutschland. Auch ihre arabischen Nachbarn kamen ihnen kaum zur Hilfe. Sie wehrten sich, wurden aber immer wieder besiegt. Das kleine Israel wurde unter dem Schutzmantel der USA zu einer der stärksten Militärmächte der Welt.

Siegreich hat Israel im Laufe des Konfliktes ganz Palästina besetzt, hat das Nachbarland jüdisch besiedelt und hält es unter einem harten Joch. Widerstand hat sich immer wieder als sinnlos erwiesen. Trotzdem und deswegen lebt Israel, leben fast alle Israelis in permanenter Angst. Diese Angst ist in der Gegenwart nicht unberechtigt und ist angesichts der jahrhundertelangen Verfolgung des jüdischen Volkes, meist durch Christen, aber auch durch den Islam, nicht verwunderlich. Die Krankheit Antisemitismus lebt weiter und findet in der heutigen Politik Israels immer neuen Nährboden. Kollektive Angst ist ein schlechter politischer Wegweiser, führt leicht zu Hass, zur Intoleranz, zum Rassismus, den Wahrzeichen des hochmilitarisierten Israels. Dieses Land glaubt es sich leisten zu können, die Beschlüsse der Vereinten Nationen – denen Israel seine Geburt verdankt – konsequent zumissachten.

Dieses Israel hat sich zur einzigen Atommacht im Mittelmeerraum gemacht. Dieses Israel droht nun Iran anzugreifen, in der Vermutung, Iran habe die Absicht, nichts anderes zu tun, als das, was Israel schon längst getan hat. Die Konsequenzen eines solchen Angriffes wären unermesslich. All das – so sagt »Political Correctness« – darf vor allem angesichts der deutschen Schuld von keinem Deutschen und angesichts der christlichen Schuld von keinem Christen ausgesprochen werden. Wer es doch ausspricht, wird gleich zum Antisemiten gebrandmarkt. Auf diese Art die Wahrheit zu unterdrücken ist nichts anderes als moralische Erpressung. Sie ist erstaunlich wirkungsvoll. Wer will sich heute sagen lassen, er oder sie sei Antisemit, oder Neofaschist? Erst recht kein Politiker. Das hat US-Präsident Barack Obama schnell lernen müssen. Sagt es ein Jude, und nicht wenige haben den Mut dazu, dann handelt es sich eben um einen sich selbst hassenden Juden.

Ich spreche es als Deutscher mit einer geliebten jüdischen Großmutter aus, die zum Opfer der Naziherrschaft wurde. Ich spreche es als Freund Israels aus, der sich mit der tapferen israelischen Minderheit solidarisch fühlt, die sich der Politik ihres Landes schämt, genauso wie sich einst die deutschen Widerständler schämten über das, was aus ihrem Land geworden war. Ich liebe Israel genauso, wie ich und meine Eltern im Exil Deutschland liebten, als Hitler noch herrschte. Bei allem Vergleichbaren sage ich damit aber nicht, Netanjahus Politik sei mit Hitlers Wahnsinn zu vergleichen. In Israel haben Araber noch begrenzte Rechte. Als Hitler losschlug, war Deutschland von keinem bedroht.

Ich sage all dies in Einklang mit denen, die – wie einst meine Gesinnungsfreunde in der DDR – heute in Israel friedlichen Widerstand leisten und die in Israel vergleichbar behandelt werden. Ich sage es in Hochachtung vor Mordechai Vanunu, der der Welt die Wahrheit über Israels Atomwaffen bekannt gab und dafür mit siebzehn Jahren Einzelhaft bestraft wurde und heute noch das Land nicht verlassen darf. Ich sage es im Einklang mit dem Nobelpreisträger Desmond Tutu und mit Jimmy Carter, dem einstigen, guten und ehrlichen amerikanischen Präsidenten. Ich sage es nun im Einklang mit Günter Grass, [Originaltext der Erstveröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung vom 4. April 2012, online auf Süddeutsche.de] der spät, aber nicht zu spät – wohl wissend, was auf ihn zukommen würde – den Mut fand, das zu sagen, was gesagt werden muss.

Dass Mut dazu gehört vor allem in Deutschland –, diese Wahrheit auszusprechen, ist eines der vielen Zeichen der Unfreiheit in unserer »freien Welt«. Zwar darf sich ein Dichter erlauben, nicht alles in einem Gedicht auszusprechen. Der Vorwurf, Günter Grass habe Iran nicht oder kaum angeprangert, ist in einer Situation, wo er es als allgemein anerkannte Tatsache sah, ein solches Regime sei untragbar, ungerecht. Der öffentlich ausgesprochene Wunsch, Israel zu vernichten, ist Welten entfernt von dem, was Grass bekundet hat, nämlich den Wunsch, Israel möge in sicheren Grenzen leben, Dazu gehört jedoch auch für Günter Grass - eine menschlich-freundlichere Politik Israels.




 Paul Oestreicher wurde 1931 als Sohn des Kinderarztes Paul Oestreicher im thüringischen Meiningen geboren. Aufgrund der jüdischen Abstammung seines Vaters musste seine Familie 1939 aus Deutsch' land fliehen. Sie fand in Neuseeland Asyl. Später ging er nach England. Er ist anglikanischer Pfarrer, Publizist und war Leiter des Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry. Heute lebt er mit seiner Frau Barbara Einhorn, deren Eltern ebenfalls einst vor dem Nazi-Terror aus Deutschland geflohen waren, in England und Neuseeland.


Man beachte das Video ab 2:58 Min.:


Bildschirmphoto aus dem Sanftleben-Vortrag
Ausführlichere Darstellungen
- von Freeman auf seinem Blog Alles Schall und Rauch
- von ATetzlaf auf seinem Blog Das Denken
- in einem Artikel der AG Friedensforschung
- in einem Artikel der Steinbergrecherche
- offener Brief der Arbeiterfotografie an die Bundeszentrale für Politische Bildung (hochinteressant!)
- Katajun Amirpur – Der iranische Schlüsselsatz bei der Süddeutschen
- Mahmud Ahmadinedschad bei Wikiquote

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