Montag, 7. November 2011

Mr. Mark & Mr. Bob

Ich wollte sie [noch] mal sehen. Dire Straits war die erste große Gruppe, bei denen mir das Gefühl kam: Das interessiert mich nicht mehr. Eigentlich haben mich viele große Namen nicht so interessiert: Die Stones waren mir zu rotzig, Zappa zu chaotisch, Leonard Cohen zu depressiv, Joan Baez zu edel-weltschmerzig, Santana zu gitarrenspieltechnikverliebt, die Who zu düster, Crosby, Stills, Nash & Young nicht mitreißend genug. Progressive Rock war mein Ding. Und einigen der oben genannten mußte ich später Abbitte tun. Man wird älter und reifer, und der Geschmack verändert sich. Bei der Filmmusik zu »Local Hero« (von Mark Knopfler) dachte ich »Oh-ha, Klasse, hätte ich ihm nicht zugetraut«.

Dire Straits - Going Home: Theme of the Local Hero (Live, The Final Oz, Australia, 1986) [9:50]

Hochgeladen am 26.09.2009
The Dire Straits perform "Going Home: Theme of the Local Hero" Live at the Sydney Entertainment Centre in Sydney, Australia, on April 26th, 1986.


Band members for this performance are Mark Knopfler on lead guitar and vocals, John Illsley on bass, Jack Sonni on guitar, Chris White on saxaphone, Guy Fletcher on keyboards, Terry williams on drums and Alan Clark on keyboards.

Als Knopfler gestern auf der Bühne der TUI-Arena stand, erinnerte er mich mit seinem Aussehen an einen geschätzten Kollegen. Spielen kann er, keine Frage. Und Mühe macht er sich auch: zwei Keyboards, vier Gitarren. Weniger hätte man wohl nicht bemerkt. Aber: Der Geiger geigte sich einen ab, man hörte ihn kaum. Das Akkordeon hörte man manchmal, die Flöte auch. Die Lautstärke schaffte eine Art dreckiger akustischer Windschutzscheibe, durch die man die Musik durchhören mußte. Es knallte in den Bauch wie ins Ohr, aber so, als ob man was reingedrückt kriegt. Es war nicht ganz so furchtbar wie bei Supertramp September letzten Jahres, aber vielleicht habe ich mich an den Krach inzwischen auch gewöhnt. Die Lautstärke verwischt die Feinheit der Musik, als ob man durch eine Mauer aus brüllend lauter Klangsuppe durchhören muß. Anscheinend ist das die Zeit, und anscheinend gibt’s im ganzen Netz nur zwei Leute (LittlebyLittle-Forum und tacrolimus’ Blog), die das vorsichtig beklagen. Ich werde alt.

Und dann Mr. Bob. 1978 habe ich ihn in Nürnberg auf dem Zeppelinfeld, da wo die Nazis ihre gigantischen Aufmärsche machten, gesehen. Wenige Tage zuvor hatten sie ihn in Dortmund ausgebuht und mit Tomaten beworfen. In der alternativen Berliner Zeitung Tip erschien eine Todesanzeige, in der sein Abgang beklagt wurde: der Star wurde den Erwartungen seiner Fans nicht mehr gerecht. (Mehr dazu bei Nichterschienen) Das habe ich erst vor wenigen Wochen in einer Filmdokumentation erfahren, damals wußte ich das nicht. Abgesehen davon, daß nicht genug Toiletten da waren, fand ich das Konzert ganz gut. Mehr nicht. Ich hatte ihn gesehen und war nicht auf ihn abgefahren.

Fritz Rau (der Dylan übrigens Günter Amendt mit in den Zug setzte – Dylan reiste mit dem Zug –, um ihm dessen Fragen zu Deutschland beantworten zu können – gibt’s das heute noch?) zu dem Konzert:

Bob Dylan 1. Juli 1978 auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg [1:28]


Veröffentlicht am 21.02.2010
Mein grösstes Open-Air Ereignis war am 1. Juli 1978 in Nürnberg, Zeppelinfeld. 
Über 80'000 Zuschauer, ich war mit der ganzen Familie mit dem Klappanhänger dort. Es war unheimlich friedlich. Kein Gedränge wie heute. Es waren viele 68er da.
Ich möchte nicht sagen dass es zu dieser Zeit keine Ego-Trips gab, aber es war vepöhnt. Nicht wie heute wo jeder nur auf seinen eigenen Vorteil schaut. Am Morgen lagen einige Festivalbesucher und unserem Klapper weil es in der Nacht regnete

Günter Amendt remembers Dylan's 1978 tour (Nuremberg concert) [1:03]

folkarchivist Hochgeladen am 14.03.2011 
Günter Amendt remembers Dylan's 1978 tour (Nuremberg concert). From the 2001 Arte documentary "Knockin' On Dylan's Door" to commemorate the death of Günter Amendt in a freak accident on March 12, 2010.

zu Dylans Auftritt in Nürnberg siehe auch:
- Erinnern an Legenden: Als Dylan und Joel in Nürnberg gegen Nazis sangen (Bayerischer Rundfunk, 24.02.2016)

Was ich gestern hörte, machte mich für Stunden völlig ratlos. Dylan nahm seine Texte und kaute sie wie Kaugummi. Er hat ja schon seit vielen Jahren genäselt, gequakt und genuschelt. Aber gestern hat er seine Texte rausgekotzt, wie zerkauten Kaugummi rausgespuckt. Beim Lied »Don't Think Twice, Its All Right« – das Einzige, was ich erkannt habe – war er mit dem Text der Zeile »It ain't no use to sit and wonder why, babe« schon fertig, als die Instumentalbegleitung noch »sit and wonder why, babe« spielte.

Don't Think Twice It's All Right - Bob Dylan [3:34]   Text (Songtexte.com)   Übersetzung (ebda) 


Veröffentlicht am 27.06.2014
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E.Clapton - B.Dylan - Don't Think Twice, It's All Right - LIVE [6:02]
Veröffentlicht am 13.03.2014
E.Clapton - B.Dylan - Don't Think Twice, It's All Right - LIVE

Ich hab’s versucht nachzumachen, ich weiß nicht, wie er das macht, ich kann das nicht. Das muß Kunst sein. Ich sah ihn sich auf der Bühne bewegen und mußte an Michael Jackson denken: ein unverstandener Freak, der weiß, daß er nicht verstanden wird und trotzdem sein Ding macht. Fast so als, ob er nicht verstanden werden will oder er Dich zwingt: Wenn Du mich verstehen willst, mußt Du was tun. (Kommentare bei der HAZ und auf WELT-Online)
aus dem SPIEGEL-Artikel
Nachdem er 1965 viele Folkrock-Fans vergrätzt hatte, als er es wagte, seine Texte mit E-Gitarre zu begleiten, schockierte er seine Anhänger 1978 mit einer »… durchchoreografierten Show, Dylan geschminkt mit Lidschatten, die Band in Bühnenklamotten, 'Don't Think Twice' im Reggae-Rhythmus, 'All Along The Watchtower' dominiert von der virtuosen Geige David Mansfields, the silver saxophone von Steve Douglas, die Kongas von Bobby Hall und das Schubidubidu der Girls im Hintergrund … Das war schon gewöhnungsbedürftig.« (Günter Amend). Der letzteren zitierende SPIEGEL-Artikel ist sehr zu empfehlen, gibt er doch die Atmosphäre der damaligen Zeit wieder: Große Teile des Publikums waren ärgerlich, weil Dylan sich dem Protestsong-Image zu entziehen versuchte.
Bis zu diesem Morgen überlegte ich mir, was ihn dazu treibt, sich selbst zu persiflieren und zu demontieren. (Sich selbst oder das Bild, welches wir sturerweise noch von ihm haben?) Es ist so, als ob er seine Songs von damals als Felsbrocken, als Rohmaterial nimmt, was er dann wie ein Steinmetz bearbeitet. Felsbrocken trifft es nicht so richtig: Mehr Kaugummi oder Knet. Er verformt seine schon zu Monumenten gewordenen Songs (jemand hat gesagt, seine Lieder stellten inzwischen schon einen Teil des amerikanischen kollektiven Unbewußten dar): Man stelle sich die amerikanische Freiheitsstatue aus Knet vor und dann drückt jemand auf ihr rum und macht eine kleine Badewanne draus. Was soll das? Merkwürderweise mache ich häufiger die Erfahrung, daß Menschen mit dem Stellen einer Frage ihren Denkprozeß einstellen. Die zerebrale Arbeit endet mit einer Frage, Punkt!
aus dem am Schluß gelinkten WELT-Artikel
Wenn Dylan nicht einfach nur bekloppt ist und wenn er doch noch eine Botschaft hat, könnten wir uns folgendes vorstellen (wir PTs – solo-insider für Psychotherapeuten – können ja aus jeder – scheinbaren? – Sch… noch was machen):
Wir können unsere damaligen Ideale als Freiheitsstauen aus Knet verstehen. Und dann sehen wir, was die Zeit aus ihnen gemacht hat: zerknautschte Werte. Geiz ist geil, Kinderarbeit als Preisbrecher auf den Wühltischen von KIK, 90-Euro-Nike-Windbreaker aus Bangladesh, bench-Jacken aus upgecyleten PET als peer-group-Uniform, giftige Auto-Akkus oder giftige Energiesparlampen, »Öko«-Diesel als Energiesparmaßnahme der reichen Länder, die Lebensmittel in der Dritten Welt noch teurer macht, Abfischen der westafrikanischen Küste durch hochtechnisierte Fischfang-Gangster-Flotten, und dann »Kampf gegen den Terrorismus«. Ist das das Ergebnis der 68er? Sind Bankenkrise, Rettungsschirme, Designer-Babys und Nano-Technologie wirklich stärker als unsere Ideen von damals?


Quelle: The Persistence of Memory (engl. Wikipedia)
Anfang der 70er wurden Multiple-Choice-Fragen im Medizin-Studium eingeführt, um aus der Prüfungs-Abhängigkeit von Professoren herauszukommen, heute werden MC-Fragen durch mündliche Prüfungen ergänzt. – Das Verbot von Kettenarbeitsverträgen ist faktisch aufgehoben. – Heute diskutieren wir über Grundeinkommen, Mindestlohn und Steuerentlastung, während wir den gigantischsten Schuldenberg der deutschen Geschichte vor uns her und aufs Tablett unserer Kinder schieben. – Irgendwelche Fanatiker fällen die Twin-Towers, und dann macht der sich moralisch überlegen dünkende Westen mal kurz einen Billionen teuren »Krieg gegen den Terrorismus« (an die zwei Millionen Tote), hebelt mal kurz die Bürgerrechte aus, foltert vor den Augen der Weltöffentlichkeit und zieht sich dann ratlos und mit markigen Sprüchen aus einem unkontrollierbaren Terrain zurück. 
Werte? Scheiß drauf! Es geht um Macht und Geld. Und wir halten alle still, weil wir mit Konsumieren und der Sicherung unseres Lebensstandards beschäftigt sind.  Derweil bauen die Mächtigen Scheiße, die wir nachher auslöffeln können (siehe: Ich kann gar nicht so viel essen…, Post, 25.03.2006).

Vielleicht will uns Mr. Bob unsere vom Zeitgeist zerknautschen Ideen vor Augen halten…

1978 als »Entertainer aus Las Vegas« und heute als Freak, der seine eigenen Songs zermanscht.

Ich wollte es mir nicht länger antun und bin gegangen…


siehe auch:
„Der Kongress teilt das Bett mit der Wall Street“ (22.05.2015 – Bob Dylan Performs at the White House)
Heute vor 20 Jahren – Bob Dylans versteckte Botschaft bei der Grammy-Verleihung (Post, 20.02.2011)
Heute wird Bob Dylan 70 Jahre alt (Splitter, 24.05.2011) 
und noch ein tolles Musik-Video mit einem gnadenlos guten Text

zuletzt aktualisiert am 27.11.2016


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