Dienstag, 29. September 2009

Mensch und Markt

Der Mensch – ist er ein allseitig gefrässiges, egoistisches und rücksichtsloses Wesen, wie es uns gewisse Verhaltensforscher weismachen wollen? In der Tat, man könnte es meinen, wenn man liest, mit welcher Arroganz und Selbstverständlichkeit in unseren Tagen Boni abkassiert werden, von deren Höhe wir gewöhnlich Sterblichen uns kaum eine Vorstellung machen können. Und, wohlgemerkt: Diese Riesensummen fehlen dann anderswo, sie werden letztlich der Volkswirtschaft entzogen bzw. der Normalbürger hat dafür aufzukommen, sei es in Form von Steuern oder via Verteuerung der lebensnotwendigen Produkte oder Konsumgüter.

„Homo homini lupus est“ – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf– sagten schon die alten Römer … Aber ist der Mensch wirklich so, oder lassen wir es uns nur einreden, bis wir es schliesslich glauben? Gibt es nicht auch so etwas wie ein „soziales Gen“, welches unter den Menschen wirksam ist (sein kann!) und sich in Solidarität, Brüderlichkeit und Empathie äussert? Der berühmte englische Sozialökonom und Moralphilosoph Adam Smith (1723-1790) sagte es so: Wenn die Menschen fähig sind, die Folgen ihres Tuns aus der Sicht der anderen zu beurteilen, sind Menschen nicht nur Egoisten. Oder anders ausgedrückt: Wer sich in die Schuhe des andern zu stellen vermag, wird seinen Handlungen eine andere Ausrichtung geben.

Ist die gegenwärtige weltweite Finanzkrise ein Naturereignis, eine Naturkatastrophe? Man möchte es meinen – denn es galten bis heute Maximen wie: „Die Gesetze des Marktes verlangen …“ oder „der Markt zwingt uns …“ Zwingen uns wirklich „marktwirtschaftliche Gesetze“, oder hätten wir es in der Hand, den Markt unter ethische Gesichtspunkte stellen? Sind wir bloss gehorsame Sklaven ökonomischer Zwänge – oder schafft der verantwortliche Mensch die Gesetze?

In diesem Zusammenhang kommt mir die Erfahrung des amerikanischen Ökonomen Paul Feldman in den Sinn, der im Alter von 52 Jahren seinen Job aufgab, um fortan in rund 140 Firmen Pausenbrötchen zu verkaufen. Seine frische Ware deponierte er jeweils im Pausenraum und stellte eine kleine Kasse daneben, in welcher jeder einen Dollar pro Brötchen einwerfen sollte. Später am Tag holte er das Geld und die überzähligen Backwaren ab. Sein kleines Geschäft wurde ungewollt zu einem Ehrlichkeitstest für Bürolisten und Manager. Feldmans Geschäft blühte, denn er konnte sich darauf verlassen, dass gegen 90% der Brötchen bezahlt wurden. Praktisch nie wurden seine Kassen geplündert oder gestohlen. Neben anderen machte er u. a. folgende Feststellungen: Je besser die Stimmung in der Firma war, desto gewissenhafter wurde bezahlt. Allerdings: Angestellte in Firmen mit vielen Hierarchiestufen schienen weniger ehrlich zu sein (vielleicht betrachtete das obere Management die Brötchen als ein Teil ihrer Boni …). Erwähnenswert war zudem, dass in schwierigen Zeiten (drohende Arbeitslosigkeit etc.) die Ehrlichkeit der Menschen zunahm. Zusammengefasst: Feldmans über 20 Jahre dauerndes Experiment ergab, dass die Leute am Arbeitsplatz erstaunlich ehrlich sind – auch wenn das Risiko, beim Brötchen-Diebstahl erwischt zu werden, sehr klein war. Dies hatte eigentlich niemand erwartet, am wenigsten die darwinistisch orientierten Verhaltensforscher!

Niemand kann mir im neuen Jahr den Glauben rauben, dass der Mensch auch Mit-Mensch ist bzw. sich in die Schuhe des andern stellen kann. Wie geht es Ihnen?

Christian Bärtschi

Der Handstand

Fast täglich erreichen uns schlimme Nachrichten aus Schulen und Schulstuben: hier ein jugendlicher Amokschütze, der blindwütig und wahllos auf Mitschülerlnnnen und Lehrpersonen schiesst und unsägliches Leid bereitet, dort ein Messerstecher, der scheinbar grundlos auf seinen Sitznachbarn einsticht und ihn lebensgefährlich versetzt.

Wenn man noch vor einiger Zeit davon ausgehen konnte, dass diese Dinge im fernen Amerika geschehen (im Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“), so hat sich das geändert. Schauplatz dieser Schuldramen ist heute auch Europa, ja sogar die Schweiz, – Was ist mit unseren Schulen, was ist mit unseren Kindern los?

Da wäre zuerst einmal zu fragen: ist die Schule nicht immer und überall ein Spiegelbild unserer Gesellschaft? Weshalb sollten Schüler friedlicher sein als die Erwachsenenwelt, in der sie gross werden? Die moderne Leistungsgesellschaft fordert ihre Opfer, der allgegenwärtige Wettbewerb und Verdrängungskampf hinterlässt Spuren.

Nun gibt es in unserem Land offenbar bereits Schulen, in denen gute Schülerleistungen mit Geld honoriert werden. Wer an einer Prüfung gut abschneidet, erhält ein Geldgeschenk, einen „Bonus“ müsste man wohl heute sagen. Mit Verlaub: Das kann doch nicht der richtige Weg sein, die Schule als Bildungsanstalt zu retten … Und was geschieht mit denen – wohl mit der Mehrzahl –, die nie zu den Besten gehören, die trotz Fleiss und Anstrengung keine finanzielle Prämie erhalten? Wie gehen sie mit dieser Frustration um, wie verkraften sie eine kontinuierliche Zurücksetzung?

Zum Glück funktionieren heute die meisten Schulen nicht mehr ausschliesslich defizitorientiert. Man hackt nicht einfach bloss auf den Schwächen der Kinder herum, verlangt nicht ausschliesslich ausgerechnet das von ihnen, was sie (noch) nicht können. Vielmehr versucht man dort einzusetzen, wo Ressourcen vorhanden sind, und seien diese auch nur bescheiden. Denn Kinder brauchen Erfolgserlebnisse, Anerkennung; sie müssen spüren, dass sie an- und aufgenommen werden, wie sie eben sind. Das gilt für die Schule und das Elternhaus. Übrigens: Haben nicht auch wir Erwachsene das gleiche Bedürfnis? Brauchen nicht auch wir es, dass uns ab und zu jemand „rühmt“, uns Anerkennung ausspricht?

Die Berner Autorin Maja Beutler hat als reife Frau von ihren Schulerlebnissen geschrieben. Eigentlich denke sie nur an einen Lehrer gerne zurück, und zwar an denjenigen, der seine Kinder am ersten Schultag der dritten Klasse gefragt habe, was jedes von ihnen besonders gut könne. Und wenn ein Kind dann in einer Probe versagt hatte, durfte es anschliessend der ganzen Klasse zeigen, was es besser konnte als die anderen. Und da war der Ernst, der schulisch kaum auf einen grünen Zweig kam, dafür aber den Handstand perfekt beherrschte. Und diesen durfte er fast jeden Morgen der Klasse vordemonstrieren, denn der Lehrer fand, es gehöre sich, dass man einander mit Achtung begegne für das, was man könne.

Bietet die heutige Schule jedem Kind die Möglichkeit, ab und zu einen stolzen Handstand zu drücken?

Christian Bärtschi