Mittwoch, 9. April 2008

Botschaft Seiner Heiligkeit des Dalai Lama an alle Tibeter

Ich entbiete allen Tibetern in Tibet meine herzlichsten Grüße und möchte hier einige meiner Überlegungen mit ihnen teilen:

1. Seit dem 10. März dieses Jahres sind wir Zeuge von Protesten und Demonstrationen in fast allen Teilen Tibets geworden, sogar in einigen Städten in China protestierten Studenten – all das ist der Ausbruch der seit langem angestauten äußeren und inneren Qualen der Tibeter und ihres Gefühls tiefer Verbitterung aufgrund der Unterdrückung der Rechte des tibetischen Volks, dem Mangel an religiöser Freiheit und des Versuchs, die Wahrheit bei jeder nur möglichen Gelegenheit zu entstellen: Dazu gehört z.B. die Aussage, die Tibeter blickten nun auf die Kommunistische Partei Chinas wie auf einen „Lebenden Buddha“. Dies ist eine ultralinke Behauptung, die von Han-Chauvinismus zeugt. Ich bin tief betrübt und besorgt über den Einsatz von Waffen und Gewalt bei der Unterdrückung der friedlich vorgebrachten Sehnsüchte des tibetischen Volkes, die Unruhen in ganz Tibet zur Folge hatten mit zahlreichen Toten, vielen weiteren Opfern, Festnahmen und Verletzungen. Eine solche Unterdrückung und solches Leid sind so verhängnisvoll und tragisch, dass jeder mitfühlende Mensch zu Tränen gerührt wird. Angesichts dieser tragischen Ereignisse fühle ich mich gänzlich hilflos.

2. Ich bete für alle Tibeter und auch für alle Chinesen, die in der jetzigen Krisenzeit ihr Leben verloren haben.

3. Die jüngsten Proteste in ganz Tibet widerlegen nicht nur die Propaganda der Volksrepublik China, dass, abgesehen von einigen wenigen „Reaktionären“ die Mehrheit der Tibeter zufrieden sei und ein Leben in Wohlstand führe, sondern führt sie ad absurdum. Diese Proteste haben ganz klar gezeigt, dass die Tibeter in den drei Provinzen Tibets, in U-tsang, in Kham und in Amdo, dieselben Hoffnungen und Sehnsüchte hegen. Diese Proteste sind eine Botschaft an die Welt, dass das Tibet-Problem nicht länger vernachlässigt werden darf. Diese Proteste zeigen, wie dringend notwendig es ist, das Problem auf dem Wege der „Wahrheitsfindung durch Fakten“ zu lösen. Der Mut und die Entschlossenheit jener Tibeter, die um der höheren Interessen des tibetischen Volkes willen ihrem bitteren Schmerz und ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen und dabei alles aufs Spiel setzten, verdienen große Bewunderung, was die Weltgemeinschaft auch anerkannte und die Beweggründe dieser Tibeter unterstützte.

4. Ich schätze ganz besonders das Verhalten von vielen tibetischen Regierungsangestellten und von führenden Mitgliedern der Kommunistischen Partei, die, ohne ihre tibetische Identität aufzugeben, mit Entschlossenheit und Vernunft in der gegenwärtigen Krise das Richtige getan haben. Für die Zukunft bitte ich daher alle tibetischen Parteikader und Regierungsangestellten, nicht immer nur auf ihren persönlichen Vorteil zu achten, sondern sich für die Wahrung der eigentlichen Interessen Tibets einzusetzen, indem sie ihren Vorgesetzten in der Partei die tatsächlichen Gefühle des tibetischen Volkes vermitteln und versuchen sollten, dem tibetischen Volk eine unvoreingenommene Führung zu geben.

5. Präsidenten, Ministerpräsidenten, Außenminister, Nobelpreisträger, Parlamentarier und besorgte Bürger aus allen Teilen der Welt wandten sich mit klaren und deutlichen Worten an die chinesische Führung, von ihrem gegenwärtigen harten Vorgehen gegen das tibetische Volk Abstand zu nehmen. Sie alle legten der chinesischen Regierung nahe, einen Weg einzuschlagen, auf dem eine für beide Seiten nutzbringende Lösung gefunden werden könnte. Wir sollten uns nun eine Möglichkeit dafür schaffen, dass ihre Bemühungen positive Ergebnisse hervorbringen können. Ich bin mir dessen bewusst, daß Ihr Euch in jeder Hinsicht herausgefordert fühlt, aber es ist wichtig, dass wir uns an unserer gewaltfreien Praxis festhalten.

6. Die chinesische Regierung hat die falschen Anschuldigungen gegen mich und die Tibetische Zentralverwaltung erhoben, wir hätten die jüngsten Ereignisse in Tibet angestiftet und gelenkt. Derartige Vorwürfe entbehren jeglichen Wahrheitsgehaltes. Ich habe wiederholt vorgeschlagen, dass ein unabhängiges und renommiertes internationales Gremium eine vollständige Untersuchung der Angelegenheit vornehmen soll. Ich bin überzeugt, dass ein solches unabhängiges Gremium die Wahrheit aufdecken wird. Wenn die Volksrepublik China auch nur die geringste Grundlage für ihre Anschuldigungen hat und Beweise dafür beibringen kann, dann möge sie diese vor der Welt offenlegen. Es reicht nicht, bloße Behauptungen aufzustellen.

7. Was die Zukunft Tibets betrifft, so habe ich beschlossen, eine Lösung innerhalb des Rahmens der Volksrepublik China zu finden. Seit 1974 habe ich mich unermüdlich für den beiderseits vorteilhaften Mittleren Weg eingesetzt. Das weiß die ganze Welt. Der Vorschlag des Mittleren Weges bedeutet, dass alle Tibeter einer gleichen Verwaltung unterstehen, die eine substantielle nationale regionale Autonomie genießt mit allem, was damit zusammenhängt, also mit Selbstverwaltung und voller Entscheidungsbefugnis, ausgenommen in Angelegenheiten der Außenpolitik und der nationalen Verteidigung. Ich habe aber von Anfang an gesagt, dass die Tibeter in Tibet das Recht haben, die endgültige Entscheidung über die Zukunft Tibets zu treffen.

8. Die Austragung der Olympischen Spiele in diesem Jahr ist etwas, worauf das 1,2 Milliarden zählende chinesische Volk sehr stolz ist. Von Anfang an habe ich mich für die Austragung der Spiele in Peking eingesetzt. Meine Position in dieser Hinsicht bleibt unverändert. Ich meine, dass die Tibeter die Spiele nicht behindern sollten. Einerseits ist es das legitime Recht eines jeden Tibeters, für seine Freiheit und seine Rechte zu kämpfen. Andererseits wäre es zwecklos und würde niemandem nützen, wenn wir etwas täten, was die Chinesen mit Hass erfüllte. Im Gegenteil, wir müssen Vertrauen und Achtung in unseren Herzen hegen, um eine harmonische Gesellschaft zu schaffen – denn diese kann nicht erbaut werden auf der Basis von Gewalt und Einschüchterung

9. Unser Kampf gilt nur einigen wenigen in der Führungsspitze der Volksrepublik China, aber nicht dem chinesischen Volk. Daher sollten wir versuchen, niemals Missverständnisse entstehen zu lassen oder etwas zu tun, was das chinesische Volk verletzen könnte. Selbst in dieser schwierigen Lage haben uns viele chinesische Intellektuelle, Schriftsteller und Rechtsanwälte in China selbst und in anderen Teilen der Welt ihrer Sympathie versichert und ihre Solidarität mit uns bekundet, indem sie Erklärungen abgaben, Artikel verfassten und uns ihre Unterstützung zusicherten, was einfach überwältigend ist. Ich habe kürzlich, am 28. März, einen Appell an das chinesische Volk auf der ganzen Welt gerichtet, von dem ich hoffe, daß Ihr ihn hören und lesen werdet.

10. Wenn die gegenwärtige Lage in Tibet anhält, dann mache ich mir sehr große Sorgen, dass die chinesische Regierung mit noch mehr Gewalt vorgehen und die Unterdrückung des tibetischen Volkes verstärken wird. Angesichts meiner moralischen Verpflichtung und meiner Verantwortung gegenüber dem tibetischen Volk habe ich die zuständigen Führer der VR China aufgefordert, ihre Unterdrückungspolitik in allen Teilen Tibets unverzüglich einzustellen und ihre bewaffneten Polizeieinheiten und Truppen abzuziehen. Wenn dies Gehör fände, würde ich die Tibeter bitten, von allen weiteren Protesten Abstand zu nehmen.

11. Ich möchte meine tibetischen Landsleute, die außerhalb Tibets in Freiheit leben, bitten, außerordentliche Umsicht walten zulassen, wenn sie ihre Empfindungen über die Entwicklung in Tibet zum Ausdruck bringen. Wir sollten uns auf keine Aktivitäten einlassen, die auch nur entfernt als gewalttätig interpretiert werden könnten. Selbst in einer so provokanten Situation wie dieser dürfen wir nicht zulassen, dass unsere kostbarsten und sorgsam gehüteten Werte kompromittiert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass unser gewaltfreier Weg zum Erfolg führen wird. Wir sollten uns bemühen zu verstehen, woher die beispiellose Sympathie und Unterstützung für unsere Sache rührt.

12. Da Tibet derzeit praktisch abgeriegelt ist und internationalen Medien kein Zugang gewährt wird, hege ich Zweifel, ob meine Botschaft die Tibeter in Tibet erreichen wird. Ab er ich hoffe, dass sie durch die Medien und durch Mundpropaganda die Mehrheit von Euch erreichen wird.

13. Zum Schluß möchte ich noch ein weiteres Mal alle Tibeter dazu aufrufen, Gewaltlosigkeit zu üben und auf keinen Fall von diesem Weg abzuweichen, wie ernst die Lage auch sein möge.

Der Dalai Lama
Dharamsala, 6. April 2008

Übersetzung: Adelheid Dönges, Revision: Angelika Mensching, MoKa
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* Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM)
* Arbeitsgruppe München