Donnerstag, 3. Juli 2008

Wie wir wurden, was wir sind

Wir können unseren Weg zur Menschlichkeit nicht denken. Wir können die Veränderungen nur leben. Eine 68erin befragt ihre Biografie: Was ist geblieben?
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Von Annelie Keil

»Die Menschen können nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, sondern nur, wie sie meinen, dass sie sich zugetragen hätte«, heißt es bei Georg Christoph Lichtenberg. Und so versuche ich zwischen den Datenbanken der Ereignisse und im Strom der unendlichen Meinungen über diejenigen, die »Die 68er« genannt werden, meine biografische Sandbank zu finden, von der aus ich beschreiben werde, was für mich die »verschiedenen Sachen« waren, die sich zu jener Zeit außerhalb meiner und in mir zugetragen haben und mich mitten im Strom der Bewegung einer Generation bis heute – als fast Siebzigjährige – mutig, neugierig, stolz, dankbar, nachdenklich und immer wieder auch wütend und verzweifelt gemacht haben.

Aber ich beginne mit einem Beispiel der Scham, an das ich mich aus aktuellem Anlass gut erinnere. Irgendwann in den 1970er-Jahren bin ich auf eine Rede des Dalai Lama und in diesem Zusammenhang auf die Folgen des kulturrevolutionären Terrors Chinas und den kulturellen Völkermord in Tibet gestoßen, der unverbrüchlich mit dem Namen Mao Tse-tung verbunden war.

Eine tiefe Scham hat mich bei der Erkenntnis ergriffen, dass wir für Frieden und Freiheit demonstrierenden Studenten zur Zeit der vollzogenen Vertreibung des Dalai Lama die chinesische Kulturrevolution für eine Errungenschaft hielten, den Namen Mao Tse-tung skandierten, seine Gedichte und Texte lasen und die Frage nach Tibet weder stellten noch uns informierten. Beschämt hat mich dabei besonders die Arroganz, mit der wir unsere Eltern angesichts ihrer Blindheit und ihres Schweigens gegenüber dem nationalsozialistischen Terror verurteilten, während wir selbst diese Art von Blindheit an anderer Stelle fortsetzten.

Wann und wie ich zu registrieren begann, dass ich zu einer, vielmehr zu zwei spezifischen Generationen gehöre, die sich durch gemeinsame, prägende Ereignisse in Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenwerden charakterisieren lassen, ist nicht einfach zu beantworten. Bei aller Gemeinsamkeit werden natürlich Krieg, Flucht, Hunger. Verfolgung, Stigmatisierung oder Bewegungen wie die 68er-Zeit nicht nur kollektiv, sondern individuell erlebt, subjektiv unterschiedlich im Lebensverlauf verarbeitet und mit sich verändernden Bedeutungen versehen. So haben die »behüteten und aufsässigen Kinder« aus bürgerlichen Akademikerfamilien, vor allem die Söhne, die Studentenbewegung mit ihrer politischen Aufbruchstimmung mit Sicherheit anders erlebt als ich, die Tochter einer von staatlicher Unterstützung lebenden Mutter, die sich von meinem Studium den sozialen Aufstieg erhoffte.

Als ich 1955 meinen Latein- und Religionslehrer unverhofft mit den gerade in einem Lehrgang für politische Bildung auswendig gelernten Sätzen konfrontierte: »Religion ist Opium für das Volk« und »Das Recht ist das Recht der herrschenden Klasse« und ich mich kurz darauf zum »Auslüften meines Gehirns«, wie er sagte, zur Zwangspause auf dem Schulhof wiederfand, hatte ich schlagartig begriffen, wie wirksam Provokationen bei der Störung der öffentlichen Ordnung, hier der Unterrichtsordnung, sein können. Ich fing gleichzeitig an zu ahnen, wie fragil diese Ordnungen sein können, wenn man sie ernsthaft befragt. Als die Polizei bei einer späteren Demonstration gegen ein Atomkraftwerk meinen Kartoffelsalat und die hart gekochten Eier als »gefährliche Wurfgeschosse« konfiszierte, war dieser Verdacht längst erhärtet. Erst später in den 60er- und 70er-Jahren wurde mir im Kontext anderer Erfahrungen und systematischer Analyse Schritt für Schritt klarer, dass es nicht um die provokatorische Erschütterung von Staat und Gesellschaft in ihren veralteten autoritären Strukturen ging, wenn wir auf der Straße riefen: »Bürger, lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Reihen ein!« Wir mussten lernen, dass Ungehorsam, Widerspruch, Bürgerbeteiligung und Zivilcourage im Sinne der unerschrockenen, aber auch differenzierenden Meinung wie überlegte Handlung geistige und soziale Tugenden sind, die sozusagen die Basis für die Streitbarkeit in einer Demokratie und die Bestreitbarkeit von allem sind, was als sicher und unabänderbar im Mantel der Normalität oder als »Parteidisziplin« daherkommt und kritiklos auf Anerkennung pocht. Ich lernte seit meiner Schulzeit verstehen, dass selbstständiges Denken, Vertrauen in die eigenen Gefühle, Mut zur Frage und zum Fehler sowie aktive Einmischung Formen von Zivilcourage waren und den besten Schutz gegen jede Art von Vereinnahmung und ideologischer Überrumpelung darstellten.

Meine Antikriegshaltung wurde auf dem Hintergrund der Kriegskinderfahrung geboren, die Forderungen nach sozialer und Bildungsgerechtigkeit waren im Angesicht meiner Herkunft eine Art Überlebensnotwendigkeit, die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Lage der Ausgegrenzten am Rande der Gesellschaft war für das Kind einer alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerin mit Flüchtlingshintergrund schon mit Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland angereichert- und so war die Verbindung zu den geistigen Strömungen und Perspektiven einer Generation, die insgesamt als 68er-Generation stark auf Veränderung setzte, geschaffen.



Annelie Keil ist Schriftstellerin, Sozial- und Gesundheits- wissenschaftlerin, seit 2004 emeritierte Professorin und ehemalige Dekanin an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitswissen- schaft und psychosomatische Krankenforschung, Biografie- und Lebensweltforschung sowie die Arbeit mit Menschen in Lebenskrisen. Sie ist in zahlreichen psychosozialen Projekten engagiert, wofür ihr 2004 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde.

Trotz vieler unterschiedlicher Einschätzungen und Differenzen zu Teilen dieser Generationsbewegung gab es so etwas wie prägende gemeinsame Lebenserfahrungen, Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien, also eine Art Gruppensozialisation. Dazu gehörte die Vorstellung »Gemeinsam arbeiten, gemeinsam in Wohngemeinschaften leben«, nicht in die Zweisamkeit flüchten, und selbstverständlich schlug sich das auch in den eigenen biografischen Konstruktionen nieder. Die Erfahrungen von fast zwanzig Jahren Wohngemeinschaften möchte ich nicht missen, und sie erleichtern mir im Augenblick die Überlegungen, welche Art von Gemeinschaftsleben ich mir für meinen letzten Lebensabschnitt vorstellen will.

Zu dieser Gruppensozialisation gehörte auch die kritische, manchmal selbstgerechte Auseinandersetzung mit der Generation, die für Nationalsozialismus und Krieg verantwortlich schien, mit unseren Eltern und Lehrern. Weiter gehörte dazu: die Diskussion anderer Familienkonzepte, die Überlegungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Relativierung des Eigentums, Teilen und Spenden für die gemeinsame Sache, Konsumreduktion, nicht so viel Klamottenzwang, mehr soziale Gerechtigkeit. Als Kriegskind und Jugendliche der Nachkriegszeit mit den ersten politischen Erfahrungen in den 1950er-Jahren konnte ich mich auf diese Themen gut einlassen.

Worin bestanden nun aber die typischen zeitgeschichtlichen Herausforderungen meiner Generation, und weiche Antworten haben in meinem Leben eine Rolle gespielt und den inneren Dialog bei der Gestaltung des eigenen Lebensweges nachhaltig beeinflusst? Welche Fragen blieben offen, welche wurden verdrängt, und wie überlagerten und veränderten sich die allgemeineren generationsspezifischen Antworten im Angesicht der unterschiedlichen sozialen Lagen, der Geschlechterdifferenzen, des Bildungsstandes oder des Alters? Wie haben die Kriegskinder die 68er-Bewegung empfunden und wie die nächste Generation, die nur den Wiederaufbau erlebt hatte und dann zum Kern der 68er-Bewegung wurde? Wie stoßen die späteren Gruppierungen »Golf-Generation«, »Generation X« oder die »Generation Praktikum« über ihre Eltern und Großeltern auf die 68er? Was ist geblieben, was vergessen, was wird belächelt oder wütend angeklagt und von wem? Das alles wäre von großem Interesse, aber sprengt den vorliegenden Rahmen.

Als Jahrgang 1939 gehöre ich eindeutig zur »Kriegskindergeneration«, jener Generation, die einerseits als weiße Jahrgänge von keiner deutschen Armee mehr eingezogen wurden, für die sich aber der Krieg in ihren Ängsten, Verletzungen und Verhaltensweisen auf verborgene Weise manchmal bis ins hohe Alter fortsetzte, und die erst in den letzten Jahren auf ein öffentliches und therapeutisches Interesse stoßen. »Ohnemichel« war die abwertende Bezeichnung für die Wiederaufrüstungskritiker und späteren Wehrdienstverweigerer dieses Teils der Nachkriegsgeneration, die unter der Parole »Ohne mich« und getragen von den Gewerkschaften, Intellektuellen, christlichen, Frauen- und anderen Gruppen wie der noch nicht verbotenen KPD die ersten großen Aktionen gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und den Kampf gegen Militarismus und Atombewaffnung eine durchaus wirkungsvolle soziale Bewegung einleiteten, die für viele – auch für mich – konsequent in die Friedensbewegung der 1960er- und 70er Jahre führte. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Ostermarsch 1957, an dem ich als Schülerin gegen den Willen meiner Mutter teilnahm, wild entschlossen, zu meiner persönlichen Verantwortung zu stehen und zu bekunden, dass es in dieser Republik Entwicklungen gab, die ohne mich und mein Einverständnis stattfinden. Ich galt noch als »Halbstarke«, als ich das erste Mal einem Polizeiknüppel begegnete, der klarstellte, was Versammlungsfreiheit vor allem nicht ist. Mein Thema im Deutschabitur 1959 lautete: »Schwimme gegen den Strom, segle gegen den Wind, ohne der Vermassung anheimzufallen!« Auch dies war eine gute Vorbereitung auf die Zeit meines Studiums der Politischen Wissenschaften und meinen Versuch, eine eigenständige, begründete und kritische politische Haltung zu entwickeln, die sich den Verhältnissen stellt und nicht davonläuft, wenn es schwierig wird. In einer Gruppe indifferenter oder eingleisiger Menschen, die sich nur ihrer Familie, ihrem Beruf oder ihrer Wissenschaft stellen, zur Mitläuferin zu werden, war schon sehr früh eine Horrorvorstellung für mich.

Es gab aber neben dem Interesse an politischer Beteiligung und dem »Nie wieder Krieg« eine andere Seite des gemeinsamen Erlebnisses Krieg in dieser Kriegskindergeneration. Wir haben uns persönlich und biografisch kaum oder gar nicht mit dem Thema Kriegskindheit und ihren Folgen für uns auseinandergesetzt. Krieg aus der Perspektive des Kindes, als Grundlage spezifischer biografischer Bewältigungsmuster, jenseits der Opferhaltung, die Eltern und Gesellschaft wie Abwehrwaffen vor sich hertrugen, gab es nicht, wie ich mit politischen Freunden und Freundinnen in einem Buch über uns Kriegskinder herauszuarbeiten versuchte. Die Ablehnung des Krieges und die Ablehnung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung waren für uns Kriegskinder glaubwürdiger zu vertreten als für manchen, der diese Erfahrungen nicht hatte. Aber es gab mehr zu sagen! Umstellt von dem »Tabu Krieg«, dem »Tabu Nationalsozialismus« und dem »Tabu Angst«, lebten wir mit unserer spezifischen Erfahrung in den Tabuzonen einer früheren Generation, die unsere Eltern und Erzieher waren – und hatten gelernt über uns selbst, unsere Ängste, unsere Wut, unsere Verzweiflung und Zukunftssorgen zu schweigen oder allenfalls heroisch oder bagatellisierend darüber zu sprechen.

Durch meine Kindheit im Krieg, die Erfahrung von Flucht, Gefangenschaft und Vertriebenenexistenz im Nachkriegsdeutschland, den Kampf um eine gute Schulbildung und Leistungsbereitschaft der Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit Sozialhilfe, durch einen starken Willen zur Eroberung von Lebenschancen und einen tiefen Glauben an soziale Gerechtigkeit und Veränderbarkeit der Welt, die es allerdings zu erkämpfen galt, war ich biografisch auf ein Studium der Politik- und Sozialwissenschaften in den 1960er-Jahren und die geistigen, sozialen und politischen Bewegungen, die dem Jahr 1968 vorausgingen und folgten, bestens vorbereitet. Meine zweite Generationszugehörigkeit zu den 68ern, für deren jüngere Vertreter aus den Geburtsjahrgängen der 1950er-Jahre ich schon zum alten Eisen gehörte, folgte nicht nur gefühlsmäßig konsequent aus der ersten Generationszugehörigkeit. Wenn man der ganzen Bewegung die Farbe Rot als Farbe der Lust und Hoffnung auf Veränderung zuordnen will, dann konnte ich den »roten Faden« meiner Biografie weiterverfolgen, vertiefen und mit neuen Inhalten füllen. Im Klassenbuch meiner Lehrer hatte ich den Spitznamen «Rote Zora«, der nicht als Diskriminierung, sondern als Anerkennung meiner sozialen Kämpferseele gemeint war, wie mein alter Klassenlehrer später bezeugte.

Generation als biografische Erfahrung, Politisierung als Prozess der Humanisierung der öffentlichen wie der persönlichen Verhältnisse, anfangen und aufhören lernen, Fehler machen und sie auch einräumen, statt auf Sicherheit zu setzen, die nichts wagt, Geschichtlichkeit erkennen und im Schlagabtausch das noch Tauschbare erkennen, neugierig bleiben, an eigene Erfolge glauben und nicht auf Utopia hoffen, Spuren sichern – das sind Zeichen am Rand des Weges, den ich ging, gehen wollte und gehe, den ich aber inmitten von Enttäuschungen, Überforderungen und politischer Resignation immer wieder auch zu verlieren drohte.

Wann und wie habe ich angefangen, in den 1960er-Jahren bewusster nach Koordinaten zu suchen, die mich die gesellschaftliche Welt besser verstehen ließen und mir Orientierung und Hoffnung versprachen? Und wann habe ich die kurzfristige Sicherheit, dass dies eigentlich ganz einfach sei und man nur die Haupt- und Nebenwidersprüche zu unterscheiden lernen muss, Gott sei Dank wieder verloren, ohne den dahinterliegenden Grundgedanken ganz zu verdammen? Wann habe ich angefangen, stolz auf mein Wissen zu sein, ohne die anderen zu verurteilen oder mich kränken und verunsichern zu lassen, dass ich auch als Professorin in Amt und Würden in der Wissenschaft einen anderen Weg gehen wollte? Wie lernte ich an Stadtvierteln, ihren Häusern und Bürgersteigen erkennen, dass da nicht jeder wohnen konnte, und wann wurden Obdachlose, Kranke, Arme und Menschen auf der Flucht vor dem Terror dieser Welt meine Lehrerinnen und Meister? Wann habe ich angefangen und immer wieder auch aufgehört, daran zu glauben, dass eine Welt ohne Krieg möglich ist und dass man Frieden auch im Umkreis von zehn Metern um sich herum ohne die unterschiedlichen Waffen schaffen kann?

Wenn es die 68er überhaupt gegeben hätte, dann wüsste ich nicht, über wen und was ich schreiben sollte und wollte. Ich wäre nicht gemeint und viele meiner Freunde und Freundinnen wie politischen Weggefährten aus dieser Zeit auch nicht. Was ich an Filmen, Dokumentationen und Gedrucktem in der letzten Zeit in den Rückblicken nach vierzig Jahren dazu gesehen und gelesen habe, hat mir den einen oder anderen Gedanken nahegebracht, mich aber in der Gesamtbetrachtung mehr oder weniger ratlos gemacht. Vieles klingt so undenkbar gewiss, so unerträglich moralisch. Die Jubelberichte und Abgesänge kommen wie aus einer Feder und haben nur wenig mit dem zu tun, was als biografische und gemeinsame Erfahrung einer Generation nicht nur in den Beteiligten noch lebendig ist. Verfall der Werte, Kindermangel, Pisa-Katastrophe, Terrorismus von allen Seiten, Leistungsverfall – die 68er sind an allem schuld, wenn man nur das richtige Reizwort findet. Vieles klingt wie die »Quadratur des Kekses«, so der Titel eines Buches (Gorris, Schrubben) mit den unglaublichen wie bizarren Meldungen, die Spiegelreporter aus seriösen Tageszeitungen aufgespießt haben: »Mann lebte vier Jahre im Wald«, »Frau rettet Schiffbrüchige mit Muttermilch«, »Pfau liebt Zapfsäule« und »Baby muss Hund heiraten«. Gute Fragen. Wer lebt in welchem Wald? Wie sehen die Pläne zur Rettung Schiffbrüchiger bei Hartz IV aus? Die Benzinpreise bringen den schönsten Pfau auf Trab, und vielleicht wäre manches Baby nicht erst in der Pubertät als Jugendliche auf der Straße lieber mit einem Hund als mit den Eltern oder den Pädagogen »verheiratet«, die immer nur das Beste wollen, aber die Betroffenen selbst nie danach fragen.

Was den 68ern im Rundumschlag alles zugeschrieben wird, was sie gewollt und nicht gewollt, an was sie schuld sind und was sie verraten haben, wie sie im Marsch durch die Institutionen auf und unter den Karrierestühlen Platz genommen haben oder Berufsverbote und andere Platzverweise bekamen, darüber will ich hier nicht richten und weder Lob- noch Klagelieder anstimmen. Ich nehme den biografischen Blickwinkel einer Frau ein, die mit ihrer Vorgeschichte und mit dem, was aus ihr geworden ist, die 1960er- und 70er-Jahre und die Zugehörigkeit zur 68er-Generation als ihre wichtigste Lebensphase von nachhaltiger Bedeutung mit Aufbruchstimmung, großem Erkenntnisgewinn, Zukunftsperspektive und Gestaltungsmöglichkeiten empfindet. Die Zweifel und Irrtümer, die Wut über das, was nicht gelungen ist, die blinden Flecken sind in dieser Bilanz eingeschlossen, denn sie haben dafür gesorgt, dass es auch nach den Aufbruchsjahren noch viel zu denken, zu fühlen, zu korrigieren und zu handeln gab. Eine Erkenntnis aus dieser Zeit ist nie aus meinem Bewusstsein gewichen: Institutionen und eben auch Bewegungen schaffen Gewissheiten, und genau die müssen infrage gestellt werden. «Nimmt man Gewissheiten ernst, so töten sie das Herz und fesseln die Fantasie«, mit dieser Klarstellung ist Iwan Illich zu einem meiner wichtigsten Lehrer geworden. Die Frage nach der Bedeutung von Religion und Spiritualität hake ich nicht mehr unter »Opium« ab, und manche andere provokatorische Gewissheit konnte biografisch überprüft werden.



Generationserfahrung als biografischer Prozess: Das bedeutete immer wieder neu, Zusammenhänge zwischen der Bewegung in all ihren Formen und sich selbst zu stiften und zu überprüfen. Das Gefühl, auch international in einem Generationszusammenhang zu stehen und zu neuen Ufern aufbrechen zu können, war mit Ereignissen wie »Pariser Mai«, »Prager Frühling«, »Black Power Bewegung«, »Free Speech Movement« verbunden und forderte dazu heraus, inhaltlich Stellung zu beziehen und nach Aktionsmöglichkeiten zu suchen, die im Kontext der internationalen Solidarität die notwendigen Konsequenzen für die eigenen Bewegungen im Auge hatte. Die Ermordung von Kennedy (1963), Che Guevara (1967), Martin Luther King (1968), Salvador Allende (1973) und Siegfried Buback (1977) haben mich in unterschiedlicher Weise bewegt und die alte Angst gegenüber Gewalt aufflammen lassen sowie die Idee vom gewaltfreien Widerstand als politische Überzeugung begründen helfen. Es war mir menschlich und politisch unbegreiflich, dass die RAF entstand, dass so kluge Frauen wie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin sich darauf einlassen konnten, und überhaupt machte mir die zunehmende Fraktionierung der »Bewegung« in all die Gruppen mit Gewissheitsansprüchen und die Tolerierung unterschiedlicher Formen von Gewalt und Machtgehabe sehr zu schaffen.

In Amt und Würden: »Die Forderungen nach sozialer und Bildungsgerechtigkeit waren im Angesicht meiner Herkunft eine Art Überlebensnotwendigkeit.«



Die Verabschiedung der Notstandsgesetze, die Verhaftung der schwarzen Bürgerrechtlerin Angela Davis in den USA, die Reden von Rudi Dutschke und die Attentate auf ihn und Benno Ohnesorg, das Massaker von My Lai in Südvietnam (1968) und der Vietnamkrieg insgesamt, die großen Vietnamdemonstrationen in Westberlin (1966) und anderswo, später die große Demonstration gegen das geplante AKW Brokdorf (1976), der Radikalenerlass und die Berufsverbote, die mit den unglaublichsten Begründungen ausgesprochen wurden, waren für mich nicht irgendwelche Ereignisse, sondern Auslöser nächtelanger Diskussionen und nervenaufreibender Auseinandersetzungen, kontroverser Einschätzungen und letztlich Anlass zur persönlichen wie beruflichen Beteiligung an anderen gesellschaftlich relevanten Bewegungen, die die »geistigen Strömungen« aufnahmen, wie die Frauenbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung, Antipsychiatrie- und Gesundheitsbewegung. Lehrlings-, Schüler- und Jugendzentrumsbewegung, Hausbesetzerbewegung oder die Bewegung gegen Sozialabbau.

Vierzig Jahre danach wird vieles lebendig, wenn ich frage, ob und wie mich diese bewegt-bewegende Zeit geprägt, vorangebracht, ermutigt, emanzipiert, aber natürlich auch vieles hat übersehen lassen. Im »langen Marsch durch die Institutionen«, von dem Rudi Dutschke gesprochen hatte, wurde mit der biografischen und politischen Lebenserfahrung vieles klarer, was ein solcher Weg im Generationszusammenhang für den Einzelnen bedeuten kann. Die gesellschaftliche und psychosoziale Praxis braucht bis heute weniger das »revolutionäre Subjekt«, oder dessen »bürgerlichen Kritiker«, dafür aber das engagierte, mitdenkende und handelnde Subjekt, das sich auch dann einzumischen wagt, wenn nicht alles klar oder ganz sicher scheint, wohin die Reise geht und wer die Bündnispartner sein werden, ein Subjekt, das vor allem nachhaltig an Lösungen arbeitet. Und deutlicher wurde auch, dass Arroganz, Besserwisserei und ideologische Gewissheiten – egal welcher Einfärbung – nicht die Säulen einer Gesellschaft und Lebenskultur sein können, dass diese auch nicht den »Muff unter den Talaren« wegblasen und wirklich für dauerhaften frischen Wind sorgen. Für mich war diese Zeit eine umfassende Herausforderung und Ermutigung, an einer Vision mitzuarbeiten, die Iwan Illich und andere zur Zeit des Marsches auf das Pentagon 1967 in einem »Aufruf zur Feier« zusammengefasst haben: »Zur Feier unserer gemeinsamen Kräfte, damit alle Menschen die Nahrung, Kleidung und Behausung erhalten, deren sie bedürfen, um sich des Lebens zu erfreuen; zur gemeinsamen Entdeckung dessen, was wir tun müssen, damit die unbegrenzte Macht der Menschheit dazu benutzt wird, jedem von uns Menschlichkeit, Würde und Freude zu verschaffen; zu verantwortlicher Bewusstheit unserer persönlichen Fähigkeit, unseren wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und uns dabei zusammenzuschließen. Wir können diese Veränderungen nur leben; wir können unseren Weg zur Menschlichkeit nicht denken. Jeder Einzelne von uns und jede Gruppe … muss zum Modell eines Zeitalters werden, das wir zu schaffen begehren« (Illich, 1996, S. 152). Eine große, vielleicht nicht einlösbare Aufgabe, aber eine konkrete Utopie, in der die Hoffnung kein Hundeleben erträgt und ins Gelingen verliebt ist, wie der Philosoph Ernst Bloch uns beigebracht hat. Ich bin zutiefst dankbar für die Erkenntnisse und Träume, die ich meinen Erfahrungen in der Kriegskinder- und 68er-Generation verdanke, Sie machen auch das Älterwerden leichter! •

Von der Autorin zuletzt erschienen: Dem Leben begegnen. Vom biologischen Überraschungsei zur eigenen Biografie, Ariston/ Hugendubel, Kreuzlingen, München 2oo6.

aus Publik-Forum 12@2008

Am 23. September denke ich ein paar Links zu posten zum Tomaten-Startschuß der real existierenden deutschen Frauenbewegung. Einen kurzen Kunstgenuß aus dem fröhlich-dramatischen Geschlechterchaos in den Köpfen kann ich mir nicht verkneifen:

Am 13. September [1969, auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes] ist die Studentin Helke Sander mit ihrer Rede an der Reihe. Sander hatte in Berlin den Aktionsrat zur Befreiung der Frau gegründet, nachdem sie als Studentin gemeinsam mit anderen Frauen Wege gesucht hatte, Familie und Studium miteinander zu verbinden. Die Idee zu den ersten Kinderläden entstammten diesem Aktionsrat. „Wir müssen hier nämlich einmal feststellen,“, sagt sie „dass an der Gesamtgesellschaft etwas mehr Frauen als Männer beteiligt sind.“ Es sei höchste Zeit, die sich daraus ergebenden Ansprüche anzumelden. Sie fordert den SDS auf, darüber zu diskutieren welche praktischen Auswirkungen die Revolution, über die ständig geredet werde, denn nun haben solle: Auf die Erziehung der Kinder, auf das private Miteinander von Mann und Frau und auf die Gleichberechtigung. Wenn die Genossen dazu nicht bereit seien, sei der SDS nicht mehr als ein aufgeblasener Hefeteig.

Der SDS ist nicht bereit. Nach Sanders Rede wird erst einmal eine Mittagspause eingelegt und danach möchte keiner so recht über die Emanzipation diskutieren. Die mit Helke Sander angereiste Studentin Sigrid Rüger ist außer sich, aber vorbereitet. Rüger bewirft Hans-Jürgen Krahl [einen Adorno-Schüler], der gerade zu einer seiner berüchtigten theorielastigen Reden anheben will, mit drei Tomaten. „Genosse Krahl! Du bist objektiv ein Konterrevolutionär und ein Agent des Klassenfeinds dazu“ bekommt der verdutzte intellektuelle Kopf des SDS zu hören.

Fritz Teufel, Mitbegründer der Kommune 1 und leidenschaftlicher Provokateur, ist jetzt in seinem Element. Er geht mit einer Plastik-MP über der Schulter zum Mikrofon und fordert, alle Frauen aus dem SDS auszuschließen, „da sie ja doch nur die partriarchalen Strukturen verschleiern. Sie kommen sowieso kaum zu Wort und wenn, quatschen sie noch entfremdeter und blöder daher als die Männer.“.
aus »Ein Stadtrundgang nach 40 Jahren« auf hr-Online

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